Grad der Beeinträchtigung neu gedacht: Brauchen wir eine soziale Dimension?

Verborgene Beeinträchtigungen im Arbeitsalltag

In unserem Arbeitsumfeld begegnen wir vielen Menschen mit Beeinträchtigungen, die jedoch keinen offiziellen Grad der Behinderung (GdB) beantragt haben oder beantragen können. Ihre Einschränkungen sind real, bleiben aber häufig unsichtbar im bürokratischen Sinne. Dazu zählen Kolleginnen und Kollegen, die zum Beispiel sozial isoliert leben, aus schwierigen Verhältnissen kommen oder keinen Schulabschluss haben. Diese Umstände wirken sich erheblich auf ihre Leistungsfähigkeit und Teilhabemöglichkeiten aus – ähnlich wie anerkannte körperliche oder psychische Behinderungen. Das stellt uns die Frage: Reicht die bisherige Definition von Beeinträchtigung aus, oder sollten soziale Faktoren als dritte Komponente mit einbezogen werden?

Offizielle Definition: Fokus auf Körper und Psyche

Nach geltendem Recht beschreibt der Grad der Behinderung (GdB), wie stark gesundheitliche Beeinträchtigungendie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschränken. Entscheidend ist hierbei der medizinische Zustand: Laut § 2 SGB IX haben Menschen mit Behinderung körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe hindern können(Bundesministerium der Justiz, 2024).

Diese Definition schließt soziale Folgen wie Diskriminierung oder Barrieren bereits mit ein. Allerdings setzt sie voraus, dass eine Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens vorliegt (VdK Deutschland, o. J.). Wer formal keine medizinische Behinderung hat, gilt auch nicht als behindert – selbst wenn erhebliche Einschränkungen in der Lebensführung bestehen. Unsichtbare Behinderungen wie chronische Krankheiten oder psychische Erkrankungen lassen sich inzwischen oft anerkennen. Doch was ist mit Menschen, deren Einschränkungen aus sozialen Lebensumständen resultieren? Hier greift die offizielle Definition zu kurz.

Soziale Faktoren: Die fehlende dritte Komponente

Viele Lebensumstände können Menschen ähnlich stark beeinträchtigen wie ein medizinisches Leiden. Einige Beispiele:

  • Fehlende Schulbildung: Rund 4,2 % der über 15-Jährigen in Deutschland – etwa 2,86 Millionen Menschen – hatten 2019 keinen allgemeinbildenden Schulabschluss (Bundeszentrale für politische Bildung, 2021). Ein fehlender Abschluss erschwert den Zugang zum Arbeitsmarkt drastisch und kann zu langfristiger Arbeitslosigkeit führen. Die Betroffenen sind im gesellschaftlichen Wettbewerb benachteiligt, fast so, als hätten sie ein unsichtbares Handicap.

  • Langzeitarbeitslosigkeit: Wer über ein Jahr ohne Arbeit ist, läuft häufig Gefahr, den Anschluss zu verlieren. In Österreich sind fast 30 % aller Arbeitslosen langzeitbeschäftigungslos; dies führt laut Bericht häufig zu sozialer Isolation, dem Verlust von Tagesstruktur und Identität sowie zu einem erhöhten Risiko für Depressionen und Angststörungen (arbeit plus, 2024). Auch physische Gesundheitsprobleme (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen) und Armut treten vermehrt auf. Langzeitarbeitslosigkeit macht Menschen krank – doch sie gilt nicht als anerkannte Behinderung.

  • Einsamkeit und soziale Isolation: Soziale Bindungen sind essentiell für die seelische und körperliche Gesundheit. Einsamkeit wirkt nachweislich negativ auf Psyche und Körper, ist aber keine anerkannte medizinische Diagnose – vielmehr wird sie ähnlich wie Armut oder Arbeitslosigkeit als „krankmachender Faktor“ betrachtet (Malteser Deutschland, 2022). Chronische Einsamkeit erhöht das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz und verkürzt die Lebenserwartung in ähnlichem Ausmaß wie starkes Rauchen oder Adipositas (Malteser Deutschland, 2022). Dennoch gibt es für „sozial isoliert“ kein Schwerbehindertenausweis, obwohl die Betroffenen oft in ihren Alltagsfunktionen massiv eingeschränkt sind.

Diese Beispiele zeigen ein Muster: Soziale Benachteiligungen – fehlende Bildung, dauerhafte Arbeitslosigkeit, Isolation – können zu echten Beeinträchtigungen der Teilhabe führen. Die Menschen „funktionieren“ im gesellschaftlichen Kontext eingeschränkt, finden schwer Arbeit oder sozialen Anschluss, und ihre Gesundheit leidet. Trotzdem gelten sie nicht als behindert im rechtlichen Sinne, da die Ursache ihrer Beeinträchtigung nicht auf einen klassischen Gesundheitsschaden zurückzuführen ist.

Gesellschaftliche Barrieren schaffen Behinderungen

Bereits 1975 formulierte die britische Behindertenbewegung UPIAS: „Aus unserer Sicht ist es die Gesellschaft, die körperlich beeinträchtigte Menschen behindert. Behinderung ist etwas Aufgezwungenes […] durch die Art, wie wir von der vollen Teilhabe an der Gesellschaft unnötigerweise isoliert und ausgeschlossen sind.“ (Union of the Physically Impaired Against Segregation [UPIAS], 1975). Dieses soziale Modell von Behinderung lenkt den Blick weg vom Individuum und hin zu den Barrieren im Umfeld. Es betont, dass Menschen nicht nur durch ihre körperlichen Defizite behindert werden, sondern vor allem durch gesellschaftliche Ausgrenzung, Vorurteile und fehlende Unterstützung.

Ein wesentlicher Aspekt dieses Modells ist auch die Gleichstellung von Personen ohne offiziellem Behindertenstatusmit jenen, die eine anerkannte Behinderung haben (Oliver, 1996). Nicht jede Beeinträchtigung ist durch ein Amt bescheinigt – doch die unbeurkundeten Fälle verdienen ebenso Beachtung. Soziale Handicaps sind in gewisser Weise „hausgemachte“ Behinderungen: Hürden im Bildungssystem, am Arbeitsmarkt oder im sozialen Miteinander, die Menschen an voller Teilnahme hindern.

Fazit: Inklusion weiterdenken

Die aktuelle Definition des Grades der Beeinträchtigung greift zu kurz, wenn sie soziale Faktoren außen vor lässt. Natürlich bleibt es wichtig, körperliche und psychische Behinderungen offiziell anzuerkennen und zu kompensieren. Doch echte Inklusion erfordert einen erweiterten Blick. Wir sollten hinterfragen, ob nicht auch schwere soziale Beeinträchtigungen – wie Bildungsdefizite, Langzeitarbeitslosigkeit oder Isolation – in die Bewertung einfließen müssten.

Das Ziel sollte sein, Teilhabe für alle zu ermöglichen, die in ihrer Lebensführung erheblich eingeschränkt sind – unabhängig von der Ursache. Menschen, die sozial „abgehängt“ sind, brauchen ähnlich wie anerkannte Menschen mit Behinderung Unterstützung, Verständnis und angemessene Anpassungen im Arbeitsleben. Indem wir den Behinderungsbegriff neu denken und um die soziale Dimension erweitern, schaffen wir Bewusstsein für diese oft übersehene Gruppe.

In der Praxis heißt das: Barrieren abbauen, wo immer sie auftreten – seien sie baulicher, organisatorischer oder sozialer Natur. Jeder verdient eine Chance auf Teilhabe. Eine inklusive Gesellschaft misst sich nicht nur daran, Rollstuhlrampenzu bauen, sondern auch daran, die mitzunehmen, die keinen formalen „GdB-Ausweis“ vorweisen können. Es ist an der Zeit, den Grad der Beeinträchtigung neu zu definieren – körperlich, geistig und sozial. Nur so werden wir unserem eigenen Anspruch an Chancengleichheit und Menschlichkeit wirklich gerecht.

Literatur

  • arbeit plus. (2024). Langzeitarbeitslosigkeit – Ursachen, Folgen und Maßnahmen. https://arbeitplus.at

  • Bundesministerium der Justiz. (2024). Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9/

  • Bundeszentrale für politische Bildung. (2021). Bildungsstand der Bevölkerung. https://www.bpb.de/

  • Malteser Deutschland. (2022). Einsamkeit – Wenn soziale Isolation krank macht. https://www.malteser.de

  • Oliver, M. (1996). Understanding disability: From theory to practice. Macmillan.

  • Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS). (1975). Fundamental principles of disability. UPIAS.

  • VdK Deutschland. (o. J.). Grad der Behinderung (GdB): Was bedeutet das? https://www.vdk.de

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